Strohbeck Reisen Magazin - page 64

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ESSAY
Cher ami ,
ich danke dir für deinen Geburtstagsgruß, was für ein wunderbarer Son-
nenstrahl mitten im Alltagsgrau! Es freut mich, dass du mir für meine Treue
dankst, doch wie könnte ich dir auch nach so vielen gemeinsamen Jahren
abtrünnig werden?!
Dein Foto steht auf meinem Schreibtisch, es tröstet mich, bis ich wieder bei
dir sein kann. Leider erst in unserem nächsten Winter, aber das ist ja keine
schlechte Reisezeit zu dir da unten in den Indischen Ozean, zum Wende-
kreis des Steinbocks. Ein langer Nachtflug, um dann aufzuwachen und auf
das türkisblaue Meer zu schauen und deine grünen Hügel und hellen Strän-
de, umrahmt vom weißen Surf der Korallenriffe. Ceci est le bonheur… ,die
wohltuende Wärme, die freundlichen Menschen. Das entspannte „Il va de
soi“, alles kein Problem… Weißt du, ich habe mir in den letzten Monaten oft
gewünscht, dass wir ein wenig deiner heiteren Gelassenheit in unser aufge-
regtes, deprimiertes Europa importieren könnten.
Dabei war deine Geschichte auch nicht gerade unkompliziert: Erst die Hol-
länder, die dich auf dem Weg nach Batavia als Frischwasser-Depot nutzten,
sich sofort auf deine Schildkröten stürzten und selbst dem gutmütigen
Dodo-Vogel den Garaus machten. Wie schön, dass es die Schildkröten in-
zwischen wieder gibt! Ich werde sie besuchen, im Jardin de Pamplemousse,
deinem verzauberten Botanischen Garten mit den riesigen Lotosblüten-
Teichen und allen Palmen der Welt. Der arme Dodo hat immerhin als Wap-
pentier und Plüschsouvenir überlebt. Ein Skelett von ihm steht in einem
Glasschrank in deinem herrlich altmodischen Natural History Museum, mit
Hilfe seiner DNA wollen Wissenschaftler eine Rekonstruktion versuchen.
Spannend. Dann kamen die Holländer, Franzosen und Engländer. Heute
bist du ein echter Regenbogenstaat. Ja, ja, ich weiß, auch bei dir gibt es Kon-
flikte unter der sanften Oberfläche. Aber während anderswo erbittert ge-
stritten wird, feiern deine Hindus, Christen, Muslime und Buddhisten ihre
Festtage miteinander, mit Respekt – sollte es nicht überall so sein?
Maurice, ich bin nicht sicher, ob ich es nächstes Mal schaffen werde, die
Strände von Grande Baie zu verlassen. Oder nachzuschauen, wie lange es
noch dauern wird, bis sich in deiner Oper, dem älteste Opernhaus südlich
des Äquators, nach der Renovierung der Vorhang wieder hebt. Wie du mich
kennst, werde ich mich dann doch wieder eher deinem sanften Diktat des
Laissez-faire beugen. Und mich wunderbar erholen.
A bientôt, mon amour, ich muss Schluss machen.
Bitte pass auf dich auf. Bleib, wie du bist.
Deine Elke Reichart
Liebesbrief
an Maurice
FOTO SCHMETTERLING ZUM ANSTECKEN VON NOHNEE: PATRICIA OSTBURG
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